Im Gespräch: Julia Beck und Florian Niedworok zur städtebaulichen Strategie Pocket Mannerhatten

„Die Ausgangsfrage war, wie Nachhaltigkeit in der Architektur räumlich, sozial und organisatorisch umgesetzt werden kann“

Wie kann das Konzept der Sharing Economy auf Gebäude übertragen werden? Julia Beck und Florian Niedworok von Pocket Mannerhatten sind gerade dabei, diese Frage gemeinsam mit und für einen Häuserblock im Wiener Bezirk Ottakring zu beantworten. Aber Pläne und Potenziale der städtebaulichen Strategie reichen weit darüber hinaus. An dieser Stelle kommen auch Investoren ins Spiel.

CRIC: Wer nicht aus Österreich kommt, ist leicht geneigt, mit Wien Haselnuss-Kakao-Waffeln zu verbinden. Aber Manner-Schnitten werden wohl kaum als Teilerklärung für den Namen Pocket Mannerhatten herhalten, oder doch?

Niedworok: Tatsächlich ist der Name zwar auch von der nahe gelegenen Manner-Fabrik, aber vor allem von Manhattan auf unterschiedliche Weise inspiriert. Vergleiche der Luftaufnahmen des New Yorker Bezirks mit Bildern von Ottakring zeigen, dass es viele Gemeinsamkeiten gibt. So ist die Stadtstruktur mit dem Straßennetz sehr ähnlich. Natürlich ist der Wiener Stadtbezirk ungleich kleiner. Der Name Manhattan stammt aus einer indianischen Sprache. Ursprünglich hieß es – jeweils in unterschiedlichen Varianten verschriftlicht – Mannahatta – Land der Hügel. Ottakring ist wie ganz Wien durchaus recht hügelig.

So ist die Herkunft des Namens Mannerhatten zu verstehen. Pocket steht dafür, dass in kleinen Einheiten wie Taschen oder Clustern in der Stadtstruktur gedacht wird. So gibt es in Manhattan kleine Pocket-Parks, bei denen private Flächen mit der Öffentlichkeit geteilt werden. Pocket steht auch dafür, das Pocket Mannerhatten keine Masterplan-Strategie ist, sondern kleinteilig und adaptiv funktioniert.

CRIC: Es handelt sich also um einen Bottom-Up-Ansatz?

Beck: Jein. Es schwingt auch ein Top-Down-Element mit. Es gibt eine übergreifende Strategie und der Handlungsrahmen ist öffentlich. Innerhalb dieses Rahmens geht das Konzept aber von den einzelnen Menschen, Wohnungen, Häusern und Häuserblöcken aus.

CRIC: Pocket Mannerhatten stellt stark auf Teilen, Tauschen, Kooperieren und Vernetzen ab. Was ist das grundlegende Konzept und wie entstand die Idee?

Niedworok: Die Ausgangsfrage war, wie Nachhaltigkeit in der Architektur räumlich, sozial und organisatorisch umgesetzt werden kann. Eine Analogie als Beispiel: Das Drei-Liter-Auto ist eine technische Innovation. Wie mit ihr umgegangen wird, ist eine soziale Frage. So könnte es ein Auto für jeden und jede geben. Es wäre denkbar, Autos zu teilen, diese damit besser auszulasten und dadurch Platz und Ressourcen zu sparen. Dies passiert teils ja auch bereits im Mobilitätssektor.

Das Konzept von Pocket Mannerhatten ist partizipativ und zielt darauf ab, Gebäude mit ihren Räumen, Nutzungen und Funktionen liegenschaftsübergreifend zu vernetzen und zu teilen. Zentraler Bestandteil ist ein nicht-monetäres Bonussystem der öffentlichen Hand, das Teilen belohnt. Dadurch ist die öffentliche Hand mit an Bord und bekommt ein neues Steuerungsinstrument.

Die Ursprungsidee geht auf meine Diplomarbeit im Jahr 2012 zurück, die sich mit kollaborativem Städtebau am Beispiel des Wiener Gründerzeitviertels befasste. 2014 erhielt ich für das weiterentwickelte Konzept den SUPERSCAPE-Award. Das Konzept wurde dann ab 2016 gemeinsam mit einem interdisziplinären Team im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Umsetzung gebracht. Nun ist es Projekt-Kandidat für die Internationale Bauausstellung Wien 2022.

CRIC: Können Sie Beispiele nennen, wie Tauschen, Teilen und Vernetzen konkret funktionieren und wo die Vorteile liegen können, etwa in sozialer, ökologischer oder wirtschaftlicher Hinsicht?

Beck: Ein ganz praktisches Beispiel ist das Nachrüsten von Häusern mit Aufzügen. Für einen Häuserblock mit 15 oder 16 Häusern fallen hohe Kosten an und auch der Platzbedarf ist groß. Beide Faktoren können deutlich gesenkt werden, wenn sich jeweils zwei bis drei Häuser einen Aufzug teilen. Zudem entstehen Bereiche, wo sich die Nachbarschaft begegnet und ins Gespräch kommt. Diese Erschließungs-Strukturen können mit Begrünung, Photovoltaikanlagen und Loggias oder Balkonen für wohnungsnahen Freiraum kombiniert werden.

CRIC: Sie denken auch darüber nach, was bewirkt werden könnte, wenn das aktuell im Kleinen ausprobierte Konzept im großen Stil angewandt würde. Wie und in welchem Maße wäre es möglich, zusätzlichen Wohnraum zu schaffen, Geld einzusparen und einen Beitrag zur Anpassung an den Klimawandel zu leisten?

Beck: Wenn in Wien bestehende Gründerzeitviertel nach dem Konzept von Pocket Mannerhatten saniert werden würden, könnten Baukosten in Millionenhöhe gespart werden, zusätzliche leistbare Wohnfläche geschaffen, das Stadtklima, die Nutzungsmischung in den Quartieren, der öffentliche Raum, die Energieversorgung, die Mobilitätskonzepte, die soziale Nachhaltigkeit und die Lebensqualität in Folge verbessert werden.

Wir haben verschiedene Szenarien entwickelt, nach denen beispielsweise durch Nachverdichtungen und Co-Living-Konzepte ca. 750.000 m2 zusätzlicher Wohnraum geschaffen werden könnte. Würde man in jedem Häuserblock nur je eine Photovoltaik-Anlage auf einem Dach errichten, könnte mit Energie-Sharing leistbarer Strom erzeugt werden, der den gesamten Energiebedarf von 28.000 Haushalten deckt. Zudem könnten durch je nur ein neu begrüntes Flachdach mit 100 m2 in Summe 280.000 m2 Dachgartenfläche geschaffen werden. Das entspricht in etwa der dreifachen Fläche des Wiener Stadtparks. An dieser Skalierung arbeiten wir aktuell.

CRIC: Ein zentraler Aspekt von Pocket Mannerhatten sind Anreizstrukturen, die auf der Idee basieren, dass Tauschen und Teilen dem Wohl der Allgemeinheit dienen und daher von der öffentlichen Hand belohnt werden sollten. Wie funktioniert das Bonussystem?

Niedworok: Die zugrunde liegende These lautet: Wer teilt und kooperiert, trägt zum Gemeinwohl bei. Und wenn jemand zum Allgemeinwohl beiträgt, sollte es von der öffentlichen Hand auch einen entsprechenden Ausgleich geben.

Dies können auch monetäre Anreize sein. Aber die Erfahrung ist auch, dass die Fördersysteme nicht mehr so stark nachgefragt werden. Die Auflagen sind sehr hoch. Vielen geht es auch nicht ums Geld. Sie wollen z.B. einen Balkon haben, eine begrünte Straße oder eine Ladestation für E-Autos.

Wer bereit ist, mit seinem Eigentum neu oder anders umzugehen, soll dafür auch belohnt werden. Das ist die Grundidee. Es ist zum Beispiel denkbar, dass bestimmte rechtliche Vorgaben in konkreten Fällen gelockert werden und ein Balkon dann eben doch möglich wird. Die Ausnahmegenehmigung für den privat genutzten Balkon als Anreiz kann zum Beispiel als Ausgleich für die der Nachbarschaft zur Verfügung gestellten Dachterrasse stehen. Basis für die Vergabe des Anreizes ist der Gemeinwohlindex, der eigens im Projekt entwickelt wurde und den potenziellen Beitrag einer Baumaßnahme zum Gemeinwohl bewertet. Wir sind mit verschiedenen Stellen der Stadt Wien dazu in intensivem Dialog.

CRIC: Damit Projekte im Sinne von Pocket Mannerhatten umgesetzt werden können, ist es essenziell, diejenigen mit an Bord zu haben, denen die Wohnungen, Häuser oder Liegenschaften gehören – inklusive kleinerer oder auch größerer Investoren. Inwiefern ist diese Akteursgruppe am aktuellen Pilotprojekt beteiligt?

Beck: Große Immobiliengesellschaften sind in unserem Pilotprojekt bislang nicht dabei. Aber wir sind gerade damit beschäftigt, Folgeprojekte vorzubereiten und in diesem Zusammenhang auch mit Immobiliengesellschaften im Gespräch. Wir sind auf der Suche nach PartnerInnen. Mehr Informationen und Ergebnisse hierzu gibt es voraussichtlich ab dem Frühjahr 2021.

CRIC: Warum sollten Investierende sich an Projekten von Pocket Mannerhatten beteiligen?

Niedworok: Zunächst einmal ist Pocket Mannerhatten für Investierende interessant, die an ethisch-nachhaltigen Projekten interessiert sind. Hinzukommen weitere Faktoren. So ist es bei Immobilienprojekten immer wichtig, dass Prozesse möglichst harmonisch ablaufen. Eine Orientierung am Allgemeinwohl verbessert hierfür die Vorzeichen. Wenn das Umfeld im Vorfeld mit einbezogen wird, ist dies anfänglich häufig mehr Aufwand, der sich aber mittel- und langfristig auszahlt und die Prozesse in der Summe effizienter und qualitätsvoller macht.

CRIC: Sie haben für die unterschiedlichen Eigentümerinnen und Eigentümer eine Typologie entwickelt. Wie sieht diese aus und was ist ihr Zweck?

Niedworok: Es ist einfach wichtig, zu berücksichtigen, dass es sehr unterschiedliche Herangehensweisen gibt, je nach den Rahmenbedingungen, unter denen jemand seine Immobilie besitzt und bewirtschaftet. Beispielsweise unterscheiden sich diejenigen, die vor Ort wohnen, stark von denjenigen, bei denen das nicht der Fall ist.

Die Eigentums-Besitzstands-Typologie, die unsere Kollegen und Kolleginnen von der TU Wien im Fachbereich Soziologie entwickelt haben, unterscheidet zwischen zehn Gruppen. Wir haben diese die Überforderten, die Traditionellen, die Eigentumsmaximierer*innen, die großen Versorger*innen, die Big Player, die Eigentum-verpflichtet-Denker*innen, die Hoffenden, die Gefesselten, die Lückeneigentümer*innen und die Langzeitdenkenden getauft. Näheres hierzu findet sich in unserem umfassenden Handbuch.

CRIC: Teilen und gemeinschaftlich Nutzen hört sich gut und sinnvoll an. Aber wer kümmert sich um die Instandhaltung der gemeinschaftlichen Strukturen, wer fühlt sich verantwortlich und wer trägt die damit einhergehenden Kosten?

Beck: Das Thema Nachsorge ist sehr wichtig. Wie haben von der Stadt Wien im Rahmen eines ergänzenden Projektes auch die Aufgabe erhalten, uns hierüber Gedanken zu machen. Es gibt kein Patentrezept. Wichtig ist immer, die Einwohnerinnen und Einwohner frühzeitig einzubinden. In Frage kommen beispielsweise vertragliche Regelungen. In den Bereichen Begrünung und Photovoltaik gibt es auch Anbieter, die dies übernehmen. Es gibt also selbstorganisierte und marktbasierte Lösungen.

CRIC: Mit den Maßnahmen im Rahmen von Pocket Mannerhatten sind Aufwertungen verbunden, die vermutlich mit Mietsteigerungen einhergehen können. Inwiefern sind solche sozialen Auswirkungen berücksichtigt?

Beck: Die Grundidee unseres Projektes ist das Gemeinwohl. Für uns ist es wichtig, dass es niederschwellig zugänglich, also leistbar und nicht ausschließend ist. Auf die soziale Zumutbarkeit bzw. Leistbarkeit wird also geachtet. Ein Bespiel zu Sharing-Optionen im sozialen Bereich ist die Idee der Solidaritätswohnung. Eine Wohnung in einem Haus wird zu einer vergünstigten Miete zur Verfügung gestellt. In unserem Pilot-Häuserblock wird das von zwei Eigentümern auch so praktiziert. Sie haben eine Wohnung bewusst nicht in vollem Umfang bzw. nur vereinfacht saniert.

CRIC: Im Kontext von Nachhaltigkeit und Diskussionen um Wandel und Transformation wird häufiger gesagt, dass es schwierig sei, Probleme mit der Denkweise zu lösen, mit der sie entstanden sind. Ist das ein Teil Ihrer Erfahrungen oder auch ein Teil Ihrer Aufgabe im Projekt Mannerhatten, neue Denkweisen anzuregen, um damit neue Lösungskonzepte zu ermöglichen?

Niedworok: Bei Pocket Mannerhatten geht es auch darum, den Eigentumsbegriff alternativ oder erweitert zu interpretieren. Die Sharing Economy ist ja eine Reaktion auf den Hyperkonsum. Eigentum und Besitz werden mitunter auch als Last empfunden. Mehr Konsum geht mit verschiedenen Anfordernissen einher, so werden Ressourcen verwendet ohne sie aber oftmals auch wirklich auszunützen. Klassisches Beispiel ist die nur selten verwendete Bohrmaschine oder aber auch Leerstand im Immobiliensektor. Tauschen und Teilen kann helfen, die Ressourcen besser zu nutzen.

Es geht also auch darum, die klassische individuelle Freiheit durch soziale Kompetenz zu erweitern. Es geht um gerechtes Verteilen, damit alle mehr haben ohne besitzen zu müssen. Und es geht um einen Bewusstseinswandel. Das kann eventuell ein Stückweit auch eine Generationen- und Wertefrage sein.

Beck: Als wichtig und hilfreich hat sich unser Planspiel erwiesen. Dabei nehmen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bestimmte vorgegebene Rollen ein, die nicht notwendigerweise ihre eigenen Rollen im echten Leben sind. Sie bekommen dann die Aufgabe die Idee des räumlichen Tauschens und Teilens umzusetzen. Dann stoßen verschiedene Interessen aufeinander und werden diskutiert. So wie es dann in der wirklichen Welt draußen auch ist.

Es verändert die Perspektive, in die Rolle von anderen aus der Nachbarschaft zu schlüpfen. Das ist ein Erkenntnisgewinn und hat eine eigene Qualität. Empathie und Kooperationsbereitschaft werden gefördert. Wir haben festgestellt, dass die Menschen offen sind für mehr Sharing. Die positive Resonanz hat uns selbst überrascht. Natürlich ist andererseits niemand gezwungen, mitzumachen.

Das Projekt ist außerdem bewusst offen, adaptiv und lernfähig angelegt. Hierfür steht die sogenannte Sharing-Option “Joker“. Eine Art Platzhalter, der die Tür offen lässt für alle zukünftigen Ideen, Bedürfnisse und Projekte der Eigentümerinnen und Eigentümer. Das Co-Living, wo individuelle Wohneinheiten mit Gemeinschaftsräumen kombiniert werden, war beispielsweise die Idee einer Projektteilnehmerin.

CRIC: Vielen Dank für das Gespräch.

Julia Beck ist Projektmanagerin, Architekturvermittlerin und arbeitet für die tatwort Nachhaltige Projekte GmbH. Florian Niedworok vom Studio Mannerhatten ist Architekt und Inhaber des Studio Mannerhatten. Sowohl die tatwort Nachhaltige Projekte GmbH als auch das Studio Mannerhatten gehören zusammen mit vier weiteren Akteuren dem Projektkonsortium von Pocket Mannerhatten an.

Das Gespräch führte Gesa Vögele.

Zum Weiterlesen:

CRIC befasst sich ebenfalls mit dem Thema Immobilien. 2018 hat CRIC gemeinsam mit der KlimaGut Immobilien AG den Leitfaden für ethisch-nachhaltige Immobilieninvestments. Ein Überblick zu Bewertungsinstrumenten für Deutschland veröffentlicht. Aktuell arbeitet CRIC ebenfalls mit der KlimaGut Immobilien AG sowie mit dem FNG an einem Transparenzprofil für nachhaltige Immobilienfonds. 

In der Rubrik Im Gespräch sind bereits erschienen:

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