Kann der Markt Gerechtigkeit garantieren?

Kann der Markt Gerechtigkeit garantieren?
Interview mit dem Sozialethiker und Vorsitzenden von CRIC, Dr. Klaus Gabriel, zur aktuellen Finanzkrise: besteht die Chance auf einen Neuanfang oder wird bald alles wieder so wie bisher laufen? Welche Rolle spielt Vertrauen im Bankenwesen? Und: kann der Einzelne irgendetwas bewirken?

Email-Interview von Gerhard Labschütz und Florian Kührer.  veröffentlicht in: Die Fiedel - Zeitschrift der Katholischen Österreichischen Hochschulverbindung Nordgau Wien, Ausgabe 01/2009, S. 4-7

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Der deklariert linke Politiker und Publizist Leo Gabriel nennt die Bankenkrise in einem Interview für diese Ausgabe der Fiedel den „Zusammenbruch des neoliberalen Systems“.

  • Wie würden Sie die momentane Situation definieren?

Ich glaube nicht, dass Schadenfreude in dieser Situation angebracht ist. Tatsächlich hat sich aber gezeigt, dass die Liberalisierungs-und Deregulierungsmaßnahmen der letzten Jahre auf den Finanzmärkten zu einer starken Verzerrung geführt haben. Jener Bereich, der das Wachstum der Finanzmärkte maßgeblich verursacht hat, nämlich der Derivatenhandel, hat sich zunehmend von realwirtschaftlichen Prozessen abgekoppelt. Das heißt nicht, das Derivate in sich schlecht oder böse sind, aber die völlige Loslösung von der Realwirtschaft hat eine spekulative Blase erzeugt, die nicht mehr kontrolliert und reguliert werden konnte. Die Finanz- und Bankenkrise zeigt demnach, dass die neoliberale Grundüberzeugung, dass nämlich der Markt sich selbst reguliert, nicht so ohne weiteres funktioniert.
Zwar gibt es (immer noch) Akteure, die behaupten, dass die derzeitige Krise so eine Art von Selbstregulierung ist. Aber wie ist ein Markt zu beurteilen, der sich selbst reguliert und dabei die restliche Welt in den Abgrund reißt? Aus ethischer Sicht ist das nicht zu vertreten. Die derzeitige Situation, von der wir noch nicht wissen, welche Auswirkungen sie haben wird, macht deutlich, dass die Wirtschaft als solche nie isoliert betrachtet werden darf und immer in gesellschaftliche Bezüge eingebettet ist.

  • Wie kann man diese Idee einer ethischen Komponente, des gesellschaftlichen Kontexts der Wirtschaft ins Bewusstsein von Akteuren verpflanzen, die ganz gut von der „Selbstregulierung“ gelebt haben und auch über die Krisen hinaus davon profitieren? Ist das nicht illusorisch?

Es handelt sich nicht um eine „Idee“ der gesellschaftlichen Einbettung von wirtschaftlichen Prozessen. Das ist real. Wirtschaft kann nicht ohne Gesellschaft existieren.
Ein Beispiel: die gegenwärtige Krise an den Finanzmärkten wurde nicht dadurch verursacht, dass ein paar Banken plötzlich Verluste geschrieben haben. Das kam später. Die Ursache war, dass die Banken einander nicht mehr vertraut haben. Der Interbankenhandel ist - bis heute übrigens - praktisch zusammengebrochen.
Banken vertrauen nicht mehr darauf, dass eine Bank, der sie Geld verleihen, das Geld auch zurückzahlen wird/
kann. Vertrauen allerdings ist eine moralische Dimension, die mehr ist als finanzielle Reputation.
Vertrauen kann der (Finanz) Markt nicht generieren, er lebt davon, ohne dass er Vertrauen im engeren Sinne selbst
erzeugen kann. Vertrauen ist etwas, das in einer Gesellschaft entsteht, die an gemeinsamen Überzeugungen und Zielen arbeitet.
Vertrauen heißt letztlich, dass man an das Gute im Menschen glaubt. Wo dieses Vertrauen gebrochen wird, entsteht ein tiefer Graben. Und das ist jetzt passiert.

Sie haben Recht, einige Akteure haben in Hinblick auf die sogenannte Selbstregulierung der Märkte sehr gut gelebt und tatsächliche gibt es auch Hinweise, dass man am liebsten wieder den Status quo herstellen will, um möglichst schnell zum „business as usual“ überzugehen. Dennoch glaube ich, dass der Schock der vergangenen Wochen und Monate bei Politiker und Politikerinnen und Wirtschaftsakteuren und Akteurinnen sehr tief sitzt und sich von daher die
Hoffnung rechtfertigt, dass ein Umdenken stattfindet. Jeder Mensch, der mit der Materie zu tun hat, weiß, dass die gegenwärtige Krise zur Zeit „Berge versetzt“. Gewissheiten und Überzeugungen zerbröseln, Allianzen zerbrechen. In dieser Krise steckt die Hoffnung auf einen Neuanfang, niemand kann bereits wissen, wie diese Situation ausgehen wird. Insofern erachte ich es nicht als illusorisch, dass es einen Neuanfang gibt. Entscheidend sind – zugegebenermaßen – die nächsten Tage und Wochen: kann sich die internationale Staatengemeinschaft auf ein gemeinsames Vorgehen einigen? Viel wäre schon erreicht, wenn sich Europa auf ein gemeinsames Vorgehen einigen kann. Und am wichtigsten: was ändert sich in den Köpfen der Menschen? Ist man bereit, bequemen Lösungen nicht den Vorzug zu geben, sondern den Sachen auf den Grund zugehen und zu fragen, was Wirtschaft eigentlich ist und für die Gesellschaft zu leisten hat?

  • Ich möchte die Fragen, die Sie am Ende Ihrer Antwort aufwerfen, gleich an Sie zurückgeben: Was ist Wirtschaft und was hat sie aus Ihrer Sicht eigentlich für die Gesellschaft zu leisten?

Unter Wirtschaft verstehe ich all jene Maßnahmen, die dazu dienen, Menschen mit denjenigen Gütern und Dienstleistungen zu versorgen, die sie benötigen. In der Marktwirtschaft erfolgt dieser Prozess über ein Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage.
Wirtschaft ist dabei eingebettet in ein gesellschaftliches Ganzes, das heißt, Wirtschaft kann nicht losgelöst von gesellschaftlichen Prozessen, Ansprüchen und Regelmechanismen funktionieren. Wirtschaft darf nicht zum Selbstzweck werden. Viele Dinge laufen in der Wirtschaft sehr effizient und von daher hat sich das markwirtschaftliche Prinzip auch bewährt und zu Wohlstandssteigerungen beigetragen. Andere Dinge
hingegen kann die Marktwirtschaft von sich heraus nicht leisten, da müssen ihr klare Vorgaben gegeben werden.
Zum Beispiel Gerechtigkeit: kann der Markt Gerechtigkeit garantieren? Ich glaube nicht, wir sehen
ja sehr deutlich, dass „der Markt“ dazu neigt, Kosten auf Gesellschaft und Umwelt zu externalisieren.

  • Jean Ziegler hat bei einem Vortrag in Wien Maßnahmen gegen das „Massaker des Hungers“ gefordert. Er nennt Überschuldung der Entwicklungsländer, Börsenspekulationen und den Klimawandel als Gründe dieser Entwicklung und betont, dass die Weltbevölkerung durchaus ernährt werden könnte. Wer aber entscheidet sich für diese Politik – kann es so etwas wie einen „moralischen Weltkonsens“ überhaupt geben?

Leider habe ich den gestrigen Vortrag von Jean Ziegler im Wiener Rathaus nicht mitverfolgen können – obwohl es von meinem Büro bis ins Wiener Rathaus nur wenige hundert Meter sind. Aber ich kenne seine Position, er weist ja schon lange auf diese Missstände hin. Und er hat natürlich Recht, dass vieles nur am politischen Willen scheitert.
Dass in der aktuellen Finanzkrise tausende Milliarden USD zur Stützung der angeschlagenen Finanzwirtschaft mobilisiert werden, dass aber die 30 Milliarden Dollar für das Welternährungsprogramm der FAO zur dauerhaften Hungerbekämpfung nicht aufzutreiben sind, illustriert das noch einmal sehr deutlich.
In einem Zeitungsartikel habe ich neulich die Frage gestellt, was wohl passieren würde, wenn man die (Bonus-)
Zahlungen an Finanzmanager an die Reduktion des CO2-Ausstoßes koppeln würde.
Wahrscheinlich würde der Finanzierung von klimafreundlichen Industrien und Produkten eine neue Priorität eingeräumt und ich persönlich würde mich freuen, wenn diese Manager dann sehr viel Geld verdienen.
Das heißt, in der Wirtschaft kann man mit solchen Anreizen wahrscheinlich viel bewegen.
Ob das auch in der Politik funktioniert, ist fraglich. Ich glaube, dass man mehr zivilgesellschaftliches Bewusstsein, aber auch mehr zivilgesellschaftlichen Druck erzeugen muss. Wir brauchen natürlich einen politischen Konsens, aber der muss nicht global sein, es genügt, wenn die reichen Industriestaaten hier gemeinsam und koordiniert vorgehen. Die Chance, dass die Politik endlich aufwacht, ist angesichts des tiefsitzenden Schocks, den die Finanzkrise erzeugt hat, durchaus gegeben. Wann, wenn nicht jetzt?

  • Sie betonen, dass die Politik dringend gefragt sei, um die Weichen für einen Neuanfang zu stellen. Ist die Politik derzeit nicht zu sehr damit beschäftigt große Betriebe und Arbeitsplätze zu retten bzw. die Rezession zu verhindern? Will sie die Wirtschaft nicht eher reparieren statt zu reformieren?

Da haben Sie schon Recht, vor allem ein Blick auf die Tagespolitik scheint zu bestätigen, dass die Politiker und Politikerinnen in Vier- oder Fünfjahresintervallen – je nach Legislaturperiode – denken. Es kommt darauf an, dass die Politikertreibenden erkennen, dass die strukturellen Fehlentwicklungen von gestern mit den Problemen von heute zusammenhängen und dass eine Symptombekämpfung alleine zuwenig ist.
Natürlich haben einige Akteure ein Interesse daran, die Krise auszusitzen und so schnell wie möglich wie bisher weiter zu machen. Immerhin haben einige ja bisher auch ganz gut damit verdient. Die kritische Zivilgesellschaft – auch die Kirchen – und die Wissenschaft haben jetzt die Aufgabe, die Politik an die strukturellen und systemischen Ursachen der Krise zu erinnern und deutlich zu machen, dass sich das ganz schnell wiederholen kann, wenn man nicht wirklich zu Änderungen bereit ist. Diese Änderungen sind tiefgreifend und beinhalten auch eine kritische Reflexion unseres Lebensstils.
Man muss klar machen, dass eine Änderung unseres Lebensstils nicht gleichzeitig einen Verzicht auf Wohlstand bedeutet, sondern dass diese Änderungen auch unglaubliche Chancen beinhalten. Man muss Scheinlösungen aufdecken und viel Aufklärungsarbeit leisten. Natürlich erfordert das auch von Politikern Mut und Durchsetzungsvermögen, auch in den eigenen Reihen.
Ich bin dennoch zuversichtlich, denn einige Persönlichkeiten in der Politik haben durchaus den Ernst der Lage erkannt. Wie gesagt, es kommt sehr darauf an, ob sich diese Kräfte durchsetzen können.

  • Wir sprechen von Entscheidungsträgern ganzer Staatengemeinschaften, die Maßnahmen gegen die Krise treffen sollen. Das Individuum steht der Entwicklung aber anscheinend hilf- und machtlos gegenüber. Oder kann ein einzelner Mensch, eine kleine Gemeinschaft (wie z.B. eine Verbindung), mit seinem Handeln etwas bewegen?

Was Sie ansprechen, ist ein zentrales Thema in der Ethik. Es betrifft die Frage, ob der einzelne Mensch oder eine Gruppe von Menschen auf einer übergeordneten, staatlichen oder globalen Ebene überhaupt etwas bewegen kann. Und wenn ja, wie weit die Verantwortungdes Einzelnen/der Einzelnen reicht.
Wir bewegen uns da in einer Spannung zwischen Gleichgültigkeit („...eigentlich ist es egal was wir machen, wir können den Lauf der Dinge ohnehin nicht mitbestimmen...“) und Überforderung („...jede/r ist persönlich für alles verantwortlich, was auf dieser Welt geschieht...“).
Beide Positionen erachte ich als nicht zutreffend.
Tatsächlich können wir als Individuen nicht für alles in der Welt verantwortlich sein, gleichzeitig können wir durch unser Handeln und unsere Entschlossenheit mehr bewirken, als wir uns vielleicht zutrauen. Einzelne Menschen können durch ihr Handeln Vorbildwirkung entfalten und dadurch zur Bewusstseinsbildung beitragen.
Eine Gruppe von Menschen kann schließlich mehr Öffentlichkeit und sogar politische Bedeutung erlangen. Vorbildhaft
zu handeln, sich für etwas einzusetzen, die „Option für die Armen“ zu leben – wenn man in die Geschichte zurückblickt, finden sich viele Beispiele, wo genau solches Handeln gesellschaftspolitische Veränderungen initiiert und getragen hat.
Ich kann Ihnen ein aktuelles Beispiel nennen.
Ich bin Vorsitzender einer Plattform für ethisch orientierte Investoren und Investorinnen. Unsere Mitglieder sind Investoren, die ihr Geld nach ethischen Kriterien anlegen. Es handelt sich dabei vor allem, aber nicht nur, um kirchliche Investoren (Diözesen, Ordensgemeinschaften ...), die damit auch beispielgebend sind und zur Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit beitragen. Diese Investoren haben auch erkannt, dass sie, wenn Sie Ihre Einlagen bündeln, damit auch Einfluss auf Unternehmen ausüben können. Derzeit entwickeln wir einen Engagementansatz, bei dem wir über das Anlagevolumen unserer Mitglieder mit Unternehmen in Dialog treten, um diese zu Veränderungen in Ihrer Geschäftspolitik zu motivieren. Gegenwärtig sind wir dabei, erste solche Engagementfälle umzusetzen. Das Ergebnis dieser Dialoge mit Unternehmen bzw. deren Geschäftsführung wollen wir auch öffentlich zugänglich machen und somit auch anderen Investorinnen und Investoren als Entscheidungsgrundlage anbieten.

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